Noch vor zwanzig Jahren war es der gefährlichste Ort der Welt. Heute, ist es der Innovativste. Medellín. Kaum eine andere Stadt hat in so kurzer Zeit, einen derartigen Wandel geschafft. Und wie das? Mit Luftseilgondeln und Openair-Rolltreppen.
Das sei eine gute Stadt um zu bleiben, wurde mir berichtet. Darum bleibe ich. Auch, weil es hier schön warm ist. Medellín ist die Frühlingsstadt. Das ganze Jahr um die 23-24 Grad! Nach drei Monaten herumreisen habe ich das Bedürfnis, einfach mal irgendwo zu sein. Und ich möchte endlich in der Lage sein, mit den Menschen zu kommunizieren. Nicht nur «Hola» und «como estas?». Ich drücke also nochmals die Schulbank hier in Medellin. Drei Wochen Wohnen in einer Gastfamilie und jeden Wochentag vier Stunden Schule. Ich setze mich quasi dem Spanisch aus, möchte so wenig wie möglich Englisch oder Deutsch sprechen. Klar, ganz ohne ist schwierig. Da gibt es ja auch Schuelgspändli, die der Sprache ähnlich wenig mächtig sind. Nach diesen drei Wochen möchte ich sagen können: «Ich spreche Spanisch.» Ich habe eine lässige Klasse. Zwei Deutsche, ein französischsprechender Kanadier, und Rob, aus London. Der erste Eindruck der Schule ist gut. Ich habe extra eine neue Schule ausgewählt, mit der Überlegung, dass wenn man neu eine Schule ins Leben ruft, werden die das schon gut machen. Ich meine, wer eröffnet schon eine schlechte Schule? Leider hat sich diese Überlegung nicht bewahrheitet. Ganz fest nicht. Aber dazu später.
Am Donnerstag bin ich in Medellín eingetroffen. Ich beginne meine Zeit hier also mit einem Partywochenende. Auch grad hier sind tolle Menschen die ich im heissen Norden in Cartagena kennengelernt habe: Julia, Rägi und Niggi von der Zürcher Pfnüselküste und Ueli aus Fehraltdorf. Ich bin also wiedermal in einem Schweizergrüppli gelandet. Auch grad hier in Medellin sind David und Alex, also wiedermal eine TeleZüri-Reunion. David wohnt ja in Bogota, und Alex ist auf Besuch. Auf dem Foto sind wir in einer Luftseilgondel. Medellin hat vier davon. Sie verbinden die armen Gebiete mit dem Zentrum. Die Verbindung ist einer der Gründe, warum Medellin heute sicherer ist.
Medellín war ganz unten, 1993 nach dem Tot Escobars. Der Drogenbaron war in den 70er und 80er Jahren einer der reichsten und mächtigsten Menschen der Welt. Der Typ verdiente zu seinen besten Zeiten anderthalb Millionen Dollars pro Tag! Escobar war aber auch äusserst brutal. Menschen die ihm im Weg standen, liess er kaltblütig abknallen. Hunderte Menschen hat der Mann auf dem Gewissen. Und von hier aus, lenkte er seine illegalen Geschäfte. Medellín wurde zur Drogenhauptstadt der Welt, Dreh und Angelpunkt von illegalem Drogenhandel. Dies wird ihr auch heute noch nachgesagt. Und ich habe den Eindruck, dass da wohl etwas dran ist. Überall auf der Strasse versuchen Typen, getarnt als Kaugummi und Zigarettenverkäufer, einem Drogen zu verkaufen. Dutzende Male jeden Tag. Auch ist mir aufgefallen, dass einige Läden an bester Lage komische Sachen verkaufen. Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass die den Mietpreis mit dieser «offiziellen» Ware rausholen. Ich kann mir gut vorstellen, dass da im Versteckten auch heute noch munter, im grossen Stiel gedealt wird. Aber klar, mit den 80ern ist das natürlich überhaupt nicht vergleichbar. Damals war das hier in Medellín, in ganz Kolumbien, eine andere Welt. Noch vor 20 Jahren war es völlig unvorstellbar hier her zu reisen. Ganz Kolumbien war damals für vieles bekannt, aber ganz sicher nicht als Reiseland. Viel zu gefährlich. Erst seit der Jahrtausendwende trauen sich Menschen nach Kolumbien zu reisen. Heute ist Medellín, der ehemals gefährlichste Ort der Welt, eines der Top-Reiseziele in Kolumbien. Medellín ist offiziell die innovativste Stadt der Welt! Diese Stadt hat gezeigt, wie man sich innerhalb von kürzester Zeit, aus der tiefsten Scheisse hocharbeitet. Und das mit guten Politikern. Mit Menschen, die richtig gehandelt haben, die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Das grosse Problem war die Kriminalität in den Armenvierteln. Die Stadtregierung liess vier Luftseilbahnen bauen, Gondeln, die die Armenviertel mit dem Zentrum verbindet. Die Stadt rückte viel näher zusammen. Die Menschen fühlen sich mehr als Teil von Medellin, und nicht mehr so an den Rand gedrängt. Diese Gondeln sind aber nicht alles. In einem der heute noch ärmsten Gebiete Medellíns, liess die Stadt Rolltreppen bauen. Wirklich! Sechs Rolltreppen, mit denen die Menschen einfacher die Hänge rauf und runter kommen. Klingt völlig verrückt, aber auch das hat Wirkung gezeigt. Auch heute noch wird abgeraten alleine in dieses Gebiet «San Javier» zu gehen. Ich bin darum mit Rob unterwegs. Wir haben beide ein etwas mulmiges Gefühl. Früher wurden hier offenbar immer wieder Touristen abgeknallt, die sich in dieses Gebiet verirrt haben. Grund: Weil sie Leute angelacht haben, und hier gäbe es nichts zu lachen. Diese Geschichte habe ich ein paar mal gehört, ist also kein ausrecherchierter Fakt :).
Rolltreppen, Gondeln, Metro, und, im Zentrum fahren sogar nocht Trams! Und dann gibts es zusätzlich noch ein dichtes Bussystem. Medellín ist völlig vernetzt und modern, wohl besser wie viele Eurpoäische Städte. Aber besonders schön ist Medellin nicht. Klar, schöner wie Bogota, aber das ist noch schnell mal eine Stadt. Medellin hat keine Altstadt. Im Zentrum hats belebte Verkaufsstrassen, Plätze und Kirchen. Aber, und auf das stehen die meisten Touris, Medellín ha einen Stadtteil der «El Poblado» genannt wird. Ich glaube der wurde extra für den Tourismus aus dem Boden gestampft. Hier leben und vergnügen sich Reisende, und Die Medellíner, die sicher nicht am Hungertuch knabbern müssen. Modernste Accesoirsläden im Disneyland-Stil neben teuren, fancy Restaurants. Fast übertrieben stilvoll, als hätten die um die Wette eingerichtet. Und auch die Häuser sind schön. Sonst sind die Kolumbianer nicht dafür bekannt, schöne Häuser zu bauen. Kalle Backsteinhochhäuser sind die Spezialität der Kolumbianer. Am Abend geht dann die Post ab in El Poblado. In den Parks wird unter bunten Lichterketten aufgewärmt, für die Partys in unzähligen Clubs. Aber ich bin ja nicht hier um Party zu machen. Oder nicht nur.
Liebe auf den ersten Blick
Meine Familie lebt in Envigado. Eine Gemeinde südlich von Medellin. Diese Gemeinde hat eine Viertelmillion Einwohner, ist aber trotzdem keine Stadt. In der Schweiz darf ja ein Ort mit mehr als 10`000 Einwohner das Stadtrecht beantragen. In Kolumbien rechnet man da etwas anders. Wie auch immer. Luz öffnet mir die Tür, mein Gastmami, ich schätze sie auf 46 Jahre. Ihr Blick ist nicht besonders liebenswürdig, dieser erste Eindruck ist nicht so falsch, stellt sich später heraus. Luz arbeitet als Köchin und Putzfrau in einem Hostel und lebt schon ihr ganzes Leben in Envigado. Die Wohnung ist eine Wohngmeinschaft. Da lebt noch Omar der Taxifahrer, und Emely, das Misterium. Sie ist 24, sieht aber aus wie 34. Sie studiere Wirtschaft, sagt sie mir. Mir kommen sofort Zweifel auf. Die sieht so fest nicht nach einer Wirtschaftsstudentin aus. Sie sagt die ganze Zeit, wie stressig ihr Leben sei. Ob am Morgen wenn ich am zmörgelen bin, oder am Abend wenn ich nach Hause komme, Emely sitzt sie aber fast ausnahmenslos vor dem Compi im Facebook, keine Ahnung was es da zu tun gibt die ganzen Stunden. Wenn sie nicht vor dem Compi sitzt, betet sie laut vor sich hin. Druck hat sie wenig, Geld fliesst automatisch. Emely hat ein Haus geerbt. Statt darin zu wohnen, vermietet sie es. Somit kommt jeden Monat genügend Geld rein, um in einer WG eine ruhige Kugel zu schieben. So kommt es mir vor. Vielleicht tue ich ihr Unrecht. Aber ich finde sie komisch. Wir wurden nicht die besten Freunde. Zum Glück ist da noch Veronica, die neunjährige Tochter von Luz. Nochmals zurück zu diesem Momant, als Luz die Tür öffnet. Hinter ihr steht dieser Sonnenschein. Vom ersten Moment an, von der ersten Sekunde als sich unsere Blicke trafen, war uns beiden klar, das wir es gut haben werden. Ich habe noch nie so ein tolles Mädchen gesehen. Veronica ist ein aufgewecktes Meitli, hübsch, lernhungrig, wie ein Schwamm saugt sie alle Informationen auf. Sie scheint weiter zu sein, als sonst neunjährige Kinder. Sie will alles von mir wissen, sie korrigiert mich, wenn ich Fehler mache. Möchte aber gleichzeitig dass ich ihr Englisch beibringe. Wir machen also etwa jeden zweiten Abend eine kleine Schulstunde. Und ich helfe ihr bei den Hausaufgaben. Veronica lernt unglaublich schnell. Bis bei mir ein Wort Eingang in mein Spatzenhirni gefunden hat, muss ich es drei Mal lernen, und mindestens vier Mal auf der Strasse einsetzen, bis es wirklich abgespeichert ist. Veronica kann ich ein Wort auf Englisch übersetzen, und das Ding wandert straight in ihr Langzeitgedächnis. Wir lernen aber nicht nur zusammen. Wenns regnet, spielen wir Rummy, bei schönem Wetter Basketball, mit ihren Kumpels aus der Nachbarschaft. Einmal am Sonntag besuchten wir ein Fussballspiel des FC Envigado. Zusammen mit ihrem Vater, der getrennt lebt von der Mutter Luz.
Der Student
Der Grund warum ich hier bin ist aber nicht Baskettball spielen, sondern Spanisch lernen. Ich arbeite hart, versuche so viel Spanisch wie möglich zu sprechen, mit dem Taxifahrer, im Ausgang mit Einheimischen. Am Morgen habe ich jeweils vier Stunden Schule, am Nachmittag gehe ich nach dem Mittagessen in die Schule zurück, um zu lernen. Sogar wir Schüler sprechen oft Spanisch miteinander. Klar, immer geht nicht, ab und zu haben wir das Bedürfnis etwas Tiefgründigeres zu diskutieren, dann kommt Englisch zum Einsatz. Aber ich kann mit gutem Gewissen sagen: Ich bin fleissig hier! Ich habe auch das grosse Bedürfnis nach Brainfood. Nach drei Monaten Reisen, habe ich zwar viel erlebt, viele emotionale Momente, unvergessliche Erlebnisse. Aber wiedermal so richtig denken und lernen tut gut. Leider ist unser Lehrer ziemlich schlecht. Jeden Tag eine neue Zeitform. In der zweiten Woche bereits Subjunktiv. Das lernt man normalerweise nach Monaten. Oder gar nicht. In einigen spanischsprechenden Regionen wird der gar nicht eingesetzt. Darum haben wir als ganze Klasse entschieden, auf zwei Wochen zu verkürzen.
Ich verlasse Medellín. Am Schluss warens dann doch drei Wochen, einfach nur zwei mit Schule. Ich hatte hier nach langer Zeit wieder so etwas wie Alltag. Jeden Morgen auf den Bus, 40 Minuten Fahrt im Morgenverkehr. Ich konnte mir so richtig vorstellen, wie es ist, hier in Medellín ein Leben zu führen. Ein Leben in einer anderen Welt, das so anders gar nicht ist.
Dass ist die Schule verkürzt habe, heisst nicht dass ich aufhöre Spanisch zu Lernern. Ganz und gar nicht. Ich gehe zurück nach Bogota und werde so viel Spanisch sprechen wie noch nie. Wie das? Im nächsten Eintrag.